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Aus dem Kapitel "Nordlichter"

Doch nichts ist ohne Gegensätze. Auch nicht in der Natur.
Denn im Winter bleibt die Sonne für Monate unter dem Horizont und das Land ist in Dunkelheit gehüllt. Die Ursache liegt in der Neigung der Erdachse gegen die Ekliptik. Als Tageslicht werden dann die wenigen Augenblicke oder Stunden eingestuft, wo die entferntesten Ausläufer des Sonnenlichts den Himmel um einige Grade erhellen. Und selbst in dieser Zeit wird dem grauen Himmel durch Wolken und Schneefall eine dunklere Schattierung hinzugefügt. Man ist von einer scheinbar trostlosen Welt umgeben, die sich depressiv auf das Gemüt auswirken kann.
Nur wer seine Augen und seinen Geist öffnet, wird selbst in dieser Dämmerung und Dunkelheit Wunder sehen, aus denen er Lebenskraft schöpfen kann.
Eines dieser Naturwunder, meine Kraftquelle, sehe ich in den Nordlichtern oder der Aurora Borealis, wie sie auch genannt wird.
Dabei handelt es sich um farbige Leuchterscheinungen in 75 km bis 500 km Höhe, die Minuten bis Stunden anhalten können. Der Ursprung ist kosmischer Natur, der großen Kraft, welche unsere Phantasie stimuliert mit ihren noch unentdeckten Geheimnissen und schier grenzenlosen Möglichkeiten.

...

Ich erlebe immer wieder Nächte, wo ich einem natürlichen Bedürfnis folge, dann in Unterhose und T-Shirt vor einer Hütte oder dem Zelt stehe, zum nächtlichem Himmel schaue, wo die Nordlichter ihr Schauspiel bieten und von dieser Naturerscheinung fasziniert bin. Und trotz der beißenden Kälte, die durch alle Poren in meinen Körper dringt, mich immer stärker zittern lässt und tausend scharfen Nadeln gleicht, gebe ich mir mehr und mehr Minuten zum Schauen und Staunen, weil ich mich einfach nicht losreißen kann von dem, was sich über mir abspielt.
Einen traumhaften Zauber strahlen diese Lichter aus und man wird ihrer Betrachtung nicht müde. Irgendwo tief in einem selbst, offenbart sich eine Welt kindlichen Staunens, das schon verloren schien. Und falls ich einmal die Geschichte hören sollte, dass jemand sie so lange betrachtete, dass er nicht einmal bemerkte, wie er erfror ... ?! Nun, ich werde an ihr nicht zweifeln !
Die Wissenschaft hat, wie angeführt, ihre Erklärung der Nordlichter und so auch die Inuit. Wobei mir ihre Legenden und Geschichten weit besser gefallen als pure wissenschaftliche Logik, die wenig Raum für die Phantasie lässt und schon gar keinen Platz für die Träume hat.
Doch auch in den bestehenden Legenden der Inuit gibt es Variationen. Für die einen sind die Nordlichter die Seelen Verstorbener, welche an Blutverlust starben, und nun nach frischem Blut suchend daherziehen. Für andere wieder sind sie trügerische Geister, welche die Unerfahrenen in die tiefste Wildnis locken wollen, um ihnen dort Verderbnis zu bringen.
Eine weniger grausame Geschichte ist, dass es sich um die Seelen der Verstorbenen handelt, welche nun in einer besseren Welt existieren und dort feiern, tanzen, sich vergnügen. Diese Auslegung ist mir eine Erklärung für die verschiedenen Formen und Geschwindigkeiten der Nordlichter.
Einige Leute, darunter auch ich, behaupten, dass man die Nordlichter hören kann. Andere sagen wieder das Gegenteil. Wer hat Recht ? Wohl beide.
Ich denke, dass es davon abhängt, wo man die Lichter erlebt und wie intensiv sie sind. Ist man nahe ihrem Ursprung und sind sie stark, dann kann man sie schon hören : ein feines Geräusch, als wenn Seide aneinander reibt.
Auch der Gehörsinn ist wichtig. Wenig Glück werden jene haben, welche noch den Lärm der Flugzeuge und Schneemaschinen im Ohr haben. Auch die Stille will gelernt sein.

...

Aus einem unbestimmten Gefühl heraus erwache ich schlagartig, blicke nach oben, und kann meinen Augen nicht trauen. Ich erblicke ein Nordlicht von bisher unbekannter Intensität für mich. Auch aus dem Camp höre ich erstaunte Ausrufe. Jeder Millimeter sichtbaren Himmels ist in Farben getaucht. So stark und hell, dass nicht einmal die hellsten Sterne damit konkurrieren können und somit für das Auge verblasst sind. Mir scheint es, als wenn ich alle Farben des Regenbogens sehen kann und dazu noch einige Farbkombinationen mehr. Und alles bewegt sich mit bisher nie gesehener, unregelmäßiger Geschwindigkeit, dass jede Ordnung zu fehlen scheint. Das Chaos regiert ! Normalerweise kommen die Lichterscheinungen wie Wellen hintereinander und halten auch ihren Abstand zueinander. Doch hier ?
Man stelle sich eine Gruppe Menschen vor, welche die unterschiedlichsten Farben auf einer schrägen Bahn ausgießen. Diese Farben bewegen sich jedoch nicht parallel nebeneinander, sondern winden sich wie Schlangen hin und her, kreuzen, verweben, überdecken, trennen sich und finden immer wieder neue Richtungen. Da ist ein Auf und Nieder, eine Schleife nach links dann wieder nach rechts und plötzlich wird die eigene Bahn in einer Rückwärtsbewegung überschnitten. Hier und dort, wie ein Fels in der Brandung, auch unbewegliche Farbkleckse, um die herum alle anderen Farben sich fließend bewegen, die sich dann plötzlich ohne alle Ordnung einzeln von ihren Plätzen lösen, mit der Umgebung verschmelzen oder sich unverändert in Bewegung setzen und der allgemeinem Richtung folgen. Dann machen sie den Eindruck von Treibgut auf wilden Wasser und ich frage mich bei manchen, ob sie wieder auf ein himmlisches Hindernis treffen werden und stehen bleiben ? Doch die Frage hat keine Antwort, denn sie verschwinden aus meinem Sichtfeld hinter die uns umgebenden Höhenzüge. Ich bin mir sehr bewusst, dass sich auch außerhalb unserer Wahrnehmung ein grandioses Licht bewegen muss. Doch aus der engen Schlucht heraus ist es mir unmöglich, die Dimensionen dieser Aurora Borealis zu bestimmen.
Nirgendwo findet mein Auge einen ruhigen Punkt. Mein Herz schlägt in einem schnellen Rhythmus, und wie in Panik versuche ich alles auf einmal sehen zu wollen. Nur nichts verpassen ! Mir ist eigentlich die Sinnlosigkeit meiner Bemühungen sofort klar, denn auch das schärfste Auge und schnellste Hirn kann nur eine begrenzte Menge an Eindrücken aufnehmen. Doch ich will versuchen, mir diesen besonderen Anblick in das Gedächtnis einzubrennen, um im Geist auch später sehen zu können, was ich wohl nie wieder in der Natur sehen werde. Zu groß ist der Seltenheitswert eines solchen Schauspiels und glücklich schätze ich die kommenden Generationen, die solch ein Ereignis auch erleben werden.